Kann man Sterben trainieren?

… ist der Titel eines Beitrags von Antje Westermann, Münchener Sterbe-Trainerin und Vesseling Practitioner. Er hat mich so angesprochen, dass ich ihn mit ihrem Einverständnis hier noch einmal bringe. Die Titelfrage passt sehr gut zu den Themen, die den Monat November kennzeichnen und mich derzeit ebenfalls auf unterschiedlichen Ebenen beschäftigen: Tod – Trauer – Loslassen. Am Ende finden Sie dazu noch einige Anregungen von mir.

Kann man Sterben trainieren?

So wie körperliche Fitness? Joggen stabilisiert bekanntlich den Kreislauf und verbessert die Kondition. Regelmäßiges Training stärkt die Muskulatur und steigert die Belastbarkeit im Alltag. Nach einiger Zeit fällt auf, dass mehr Energie verfügbar und der Kopf klarer ist.

Genauso kann ich auch das Sterben üben. Der Muskel, der dabei aufgebaut wird, ist der Loslass-Muskel. Je gezielter ich Vergangenes, Sorgen, Bedenken und sich wiederholende Lebensthemen loslassen kann, um so eher gehe ich mit dem, was mir gerade begegnet, und nicht mehr soviel dagegen an. Ich lerne, mich auf Essentielles zu fokussieren und finde nach einiger Zeit der Anwendung in ein tragendes Vertrauen hinein. Das sind alles Eigenschaften, die auf dem Sterbebett den Übergang erleichtern.

Der positive Nebeneffekt für das Leben ist bald spürbar: Die Lebensqualität verbessert sich – genauso wie sie sich durch einen gesunden und fitten Körper verbessert.

Wie beim Sport ist auch beim Sterbetraining wichtig, dass ich mit der richtigen Technik an die Sache rangehe, in den individuell richtigen Übungsintervallen trainiere und den Punkt erwische, an dem sich das Durchhaltevermögen in Freude verwandelt, weil ich die positive Entwicklung als Geschenk von mir an mich selbst erlebe. In solchen Momenten fällt mir oft erst auf, was alles sich verändert hat: In vergleichbaren Situationen reagiere ich inzwischen ganz anders, gelassen, leichter und freier als früher. Damit gehen alte Identitäten und Vorstellungen, wie etwas oder jemand doch bitte schön sein soll…

In diesem Leichter- und Freierwerden lässt sich eine Unbegrenztheit erahnen, die an das Sterben vorab erinnert. Da ich aber noch lebe, kann ich gleichzeitig auf dieses echte Leben in mir und um mich herum blicken und sehe aus dieser Perspektive immer wieder neu.

Soweit der Beitrag von Antje Westermann, deren Botschaft lautet: Sterben braucht einen Raum, in dem alles sein darf.

Ergänzen möchte ich ihn um einige Anregungen, die ich dazu gefunden habe. Bleiben wir zunächst bei Tod und Sterben. In der Woche vom 17. bis zum 23. November widmet die ARD dem Leben mit dem Tod eine Themenwoche. Damit soll Sprachlosigkeit überwunden und eine gesellschaftliche Debatte mit drei Themenbereichen angeregt werden. Dies sind:

  • Wenn ich einmal sterbe. Im Leben den Tod gestalten.
  • Wenn jemand stirbt. Gemeinsam bis ans Lebensende.
  • Wenn jemand gestorben ist. Was nach dem Sterben kommt.

Besonders berührt hat mich kürzlich ein Artikel in der aktuellen Ausgabe der Zeitschrift emotion: Rumirahs letzte Reise von Doris Iding. Darin erzählt sie die Geschichte einer sterbenskranken Frau, die ihren Liebsten die Angst vor dem Tod nahm – und damit dem Tod seinen Schrecken. Auch viele andere lesenswerte Beiträge dieser Ausgabe lohnen die Investition.

Noch eine Illustration zum Loslassen von Sabine Lemke, www.fraulemke.de:

Zum Sterbetraining gehört auch, das eigene Leben kraftvoll zu leben. Hierfür spielt unsere unsere Vorstellung von einem erfüllten Leben eine wichtige Rolle. Was wir darunter verstehen, ist von Mensch zu Mensch verschiedene. Für den einen ist es die gute Beziehung zu Familie und Freunden; für andere die Verwirklichung von Träumen, Abenteuer, Reisen oder ähnliches. Und andere wiederum verstehen darunter, dass sie ihre Fähigkeiten und Talente zum Wohle der Gemeinschaft oder für ein gutes Einkommen nutzen. Wichtig ist nur, sich hin und wieder anzuschauen, ob Sie noch Zugang zu Ihren Vorstellungen oder diese in den Anforderungen des Alltags verloren haben. Wo Sie hier stehen, können Sie mit dem Test: Lebe ich das Leben, das zu mir passt? auf der Webseite der bereits erwähnten emotion herausfinden.

Ulrike Bergmann Zur Person: Ulrike Bergmann
DIE MUTMACHERIN begleitet seit 30 Jahren lebenserfahrene Solo-Unternehmerinnen, ihre Vorstellungen von einem erfüllten Berufs- und Privatleben mit Leichtigkeit und Klarheit zu verwirklichen und mutig ihren eigenen Weg zu gehen. Im MUTMACHER-MAGAZIN gibt sie Einblicke in ihre Schatzkiste und bestärkt ihre Leserinnen darin, mutig ihren eigenen Weg zu gehen.

8 Gedanken zu „Kann man Sterben trainieren?

  1. Yves Nater

    Sehr schön.
    Ja, auch mentale Muskeln kann man trainieren…
    Ich pflege im Zusammenhang mit dem Tod jeweils zu sagen: “Indianer jagen ihren Tod…”
    Dies stellt für uns Europäer eine ganz andere Sichtweise des Lebens dar. Weg von Sicherheit, hin zu Risiko und damit mehr Lebensqualität. Denn die Erfahrung dass es weder Risiko noch Sicherheit tatsächlich gibt und dies nur eine Erfindung unserer mentalen Ebene ist, ist mitunter sehr heilsam.
    Frohes Wochenende
    Yves

  2. Ulrike Bergmann Beitragsautor

    “Den Tod zu jagen” ist in der Tat eine ganz andere Sichtweise und ein hilfreiches Bild. Zumindest für Menschen, die mit dem Jagen etwas anfangen können 😉
    Auf jeden Fall bringt es eine weitere Perspektive für eine Heilung vorhandener Ängste. Vielen Dank für den Impuls!

  3. Ines Wanka

    Liebe Frau Bergmann,
    spannendes Thema.
    Gut dazu passt auch das Buch von Bronnie Ware: “The Top Five Regrets of the Dying” über die 5 Dinge, die Sterbende am meisten bereuen.
    Die australische Palliativpflegerin Bronnie Ware begleitete ihre Patienten zuhause in den Tod. Dabei hörte sie in den Gesprächen mit den Sterbenden stets dasselbe Bedauern darüber, nicht das Leben gelebt zu haben, das sie sich gewünscht hatten. Vorwürfe gegen sich selbst, weil diese Erkenntnis erst kam, als es bereits zu spät war.
    Die 5 Dinge, die Sterbende am meisten bereuen sind:
    “Ich wünschte, ich hätte den Mut gehabt, mein eigenes Leben zu leben”
    “Ich wünschte, ich hätte nicht so viel gearbeitet”
    “Ich wünschte, ich hätte den Mut gehabt, meine Gefühle auszudrücken”
    “Ich wünschte mir, ich hätte den Kontakt zu meinen Freunden aufrechterhalten”
    “Ich wünschte, ich hätte mir erlaubt glücklicher zu sein”

    Egal wir wir es nennen – “Sterben trainieren”, “erfüllt leben” … – jetzt ist die Zeit, die Entscheidungen zu treffen, welche wir am Ende unseres Lebens nicht bereuen.

  4. Ulrike Bergmann Beitragsautor

    Liebe Frau Wanka,
    Sterben trainieren und erfüllt leben, das sind die zwei Seiten der gleichen Medaille. Das eine ergibt sich aus dem andere. Vielen Dank auch für die Buchempfehlung. Ich gebe die Information an Antje Westermann weiter, deren Beitrag viele angesprochen hat.
    Ich wünsche Ihnen gute Entscheidungen!
    Ulrike Bergmann

  5. Ulrike Bergmann Beitragsautor

    Danke für die Anregung – ich habe eine Link hinzugefügt für diejenigen, die etwas mehr über diesen Film erfahren wollen. Ich kannte ihn auch noch nicht.

  6. Sylvia

    Liebe Ulrike,
    Lieber Yves,

    “…die Erfahrung, dass es weder Risiko noch Sicherheit tatsächlich gibt und dies nur eine Erfindung unserer mentalen Ebene ist…”

    WUNDERBAR! 🙂

    “Sterbe, bevor du stirbst!” raten auch die Sufi-Mystiker. Ja, man kann Sterben “trainieren” – man sollte es sogar, egal ob auf dem Weg zur Erleuchtung oder einfach nur zu einem, ja: erfüllten Leben.

    Meine persönliche Erfahrung zu (nicht nur) diesem Thema ist: wenn man sich nicht selbst aus dem Sessel schwingt und die Dinge angreift, dann zwingt einen das Leben eh dazu. Ob das eine nun besser als das andere ist, also freiwillig versus unfreiwillig… Das ist wieder ein anderes Thema.

    Ganz vielen Dank für diesen Beitrag und die Kommentare!

    Herzliche Grüße
    Sylvia

  7. Ulrike Bergmann Beitragsautor

    Liebe Sylvia,
    vielen Dank für Deine Ergänzung. Die Entscheidung für eine freiwillige Änderung kann man in der Regel erst treffen, wenn man schon einmal die Erfahrung gemacht hat, dass uns das Leben andernfalls dorthin schubst. Das ist in der Tat ein eigenes Thema und sicher einen eigenen Beitrag wert 🙂
    Herzlichst, Ulrike

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